Was ist wichtig für Verletzte mit geistiger Behinderung bei der Begleitung zu ihrer Gerichtsverhandlung?
Die Vorbereitung einer junge Erwachsenen, geistig behinderten Zeugin fand in der Wohngruppe, in der sie lebt, statt. Sie ist Betroffene in einem Sexualdelikt. Das bekannte Umfeld war für ein erstes Kennenlernen für die Verletzte sehr wichtig. Ihre Aufregung war ihr deutlich anzumerken. Diese legte sich mit der Zeit und wir hatten ein gutes Gespräch. Da ich genug Zeit hatte, hatte sie nach zwei Stunden alle Fragen gestellt, die ihr wichtig waren.
Um die Betroffene gut für die Hauptverhandlung vorzubereiten, haben wir uns vor dem Termin noch einmal getroffen, um den Gerichtssaal anzuschauen. Der Verletzten gefiel die Architektur des Raumes, allerdings war sie von der Größe des Raums eher eingeschüchtert. Ein Wachtmeister nahm sich extra Zeit für uns und erklärte der Zeugin sehr genau, wer während der Verhandlung wo sitzen würde. Da nicht ausgeschlossen war, dass ihrem Antrag auf Videovernehmung stattgegeben würde, erklärte uns der Wachtmeister auch, wie diese ablaufen würde. Die Zeugin war ganz begeistert, dass im Gericht so nette Menschen arbeiten!
Im Vorfeld der Hauptverhandlung kam es dann noch einmal zu Diskussionen bezüglich der Videovernehmung. Die Betroffene hatte ihrer Anwältin gegenüber geäußert, dass sie auch im Gerichtssaal aussagen könnte. Diese wollte daraufhin den gestellten Antrag zurückziehen. Da der Betreuerin und auch mir klar war, dass die Verletzte einen guten, stabilen Eindruck im Gespräch mit ihrer Anwältin hinterlassen wollte und sie auch die Reichweite ihrer Äußerung nicht abschätzen konnte, wurde um einen erneuten Termin gebeten, in dem dies der Anwältin erklärt werden konnte.
Dem Antrag auf Videovernehmung wurde statt gegeben.
Als der Termin der Hauptverhandlung dann gekommen war, trafen wir uns eine halbe Stunde eher vor dem Gebäude. Der Zeugin war anzumerken, dass sie sehr aufgeregt war, sie sich aber alle Mühe gab, dies auch jetzt wieder zu verbergen. Da auch ich nicht wusste, in welchem Raum die Videovernehmung stattfinden sollte, ließen wir uns dies erst einmal erklären.
Für die Zeugin war es eine tolle Geste des Vorsitzenden Richters, dass er sich vor der Verhandlung die Zeit genommen hat, zu ihr zu kommen und sie kennenzulernen. So konnten sie sich kurz darüber austauschen, wie es ihr geht, was sie für Hobbies hat und manch andere alltägliche Dinge. Der Vorsitzende Richter erklärte ihr, dass sie während ihrer Vernehmung nachfragen darf, wenn sie etwas nicht verstanden hat und dass sie sagen kann, wenn sie eine Pause benötigt.
Für die Verletzte war es sehr wichtig, dass sie vor ihrer Vernehmung den Vorsitzenden Richter direkt und nicht nur in der späteren Übertragung sehen konnte.
Über drei Stunden beantwortete die Betroffene geduldig und sehr mitteilsam alle Fragen, die ihr gestellt wurden. Mittlerweile war der Verteidiger an der Reihe. Langsam wurde bemerkbar, dass es für die Zeugin immer anstrengender wurde. Der Vorsitzende Richter bat mich um meine Einschätzung. Ich teilte den Beteiligten mit, dass ich den Eindruck hätte, dass die Zeugin erschöpft sei und es sie irritiere, dass einige Fragen mehrmals gestellt wurden. Dadurch werde sie sehr verunsichert. Der Vorsitzende Richter bestätigte meinen Eindruck bezüglich der Wiederholungen und wies die Beteiligten darauf hin, dass sie darauf achten sollten, welche Fragen sie stellen.
Der Gutachter erklärte, dass es sich hier um eine behinderte Zeugin handle und deshalb zu beachten sei, wie die Frage gestellt werden sollte-nicht zu lange Sätze, nicht zu viele Sätze, einfache Wörter. Nachdem die Diskussion über den Zustand der Zeugin schon eine Weile andauerte, wurde vom Verteidiger gefragt, ob es der Zeugin nichts ausmache, dass so über sie geredet werde, denn schließlich könne sie ja mithören. Leider verneinte dies der Gutachter und so musste sich die Zeugin noch weiter anhören, wie über sie geredet wurde. Während dieser Zeit war ich damit beschäftigt, sie zu beruhigen und ihr zu erklären, warum über ihren geistigen Zustand diskutiert wird.
Nach einer einstündigen Pause ging es weiter. Die Beteiligten bemühten sich, ihre Fragen so zu stellen, dass sie von der Verletzten leicht verstanden und auch beantwortet werden konnten. Nach weiteren zwei Stunden war die Befragung zu Ende und die Zeugin erleichtert, diese hinter sich gebracht zu haben.
Mir zeigte dieses Verfahren, wie wichtig es ist, sich auf den jeweiligen Zeugen und seine Besonderheiten einzulassen. Dies beginnt unter anderem beim Kennenlernen im bekannten Umfeld mit ausreichend Zeit, der Möglichkeit, Räumlichkeiten und Beteiligte vorab zu sehen und kennenzulernen und endet darin, dass man nicht vor den Zeugen über ihre Schwächen diskutiert. Im nächsten Verfahren werde ich den Wachtmeister bitten, den Ton für uns auszustellen.
Anerkannte Psychosoziale Prozessbegleitung in Baden-Württemberg